Wir leben Fußball.

Manchmal ist ein Perspektivwechsel notwendig. So wie bei der Fußball-WM 2022. Daniel Siebert, deutscher Referee bei der Weltmeisterschaft in Katar, zeigt am Mittwochabend im Freitaler Stadtkulturhaus auf die Leinwand hinter ihm.

Diese strittige Szene, sie schien womöglich der bisherigen Karriere als Elite-Schiedsrichter einen kleinen Dämpfer verpasst zu haben. Uruguay spielt im entscheidenden letzten Vorrundenpartie gegen Ghana. Beide können vor dem Duell noch ins Achtelfinale einziehen. Bis zur 85. Minute sieht es für die Südamerikaner hervorragend aus. Sie führen 2:0. Das Achtelfinale gegen Brasilien müsste gebucht sein.

Doch dann ändert sich das Spielgeschehen. Denn im Parallelspiel der Gruppe hat Südkorea gerade gegen Portugal den 2:1-Siegtreffer erzählt. Die Asiaten waren in diesem Moment etwas überraschend weiter – und Siebert hat plötzlich alle Hände zu tun. Uruguay braucht dringend ein weiteres eigenes Tor. Nur dann würde Südkorea noch überholt.

In der Nachspielzeit fällt Uruguay-Star Edinson Cavani schließlich im Strafraum. Siebert muss in Sekundenbruchteilen entscheiden. Und er entscheidet. So wie sich das für einen Schiedsrichter eben gehört.

Das Urteil des Berliners: kein Strafstoß. Das Stadion tobt, die „Himmelblauen“ ätzen gegen den Mann in Schwarz. Der Weltmeister von 1930 und 1950 fühlt sich benachteiligt. Schlusspfiff. Beide Teams sind ausgeschieden. Und Siebert steht in der Kritik, pfeift danach bei dem Wüstenturnier kein drittes Spiel mehr.

Warum, wieso, weshalb? Natürlich ist auch diese Szene eine Nachbetrachtung wert an diesem unterhaltsamen Abend, an dem insgesamt fast 350 Schiedsrichter und weitere Fußballinteressierte ins Stadtkulturhaus gekommen sind. Der Kreisverband Fußball Sächsische Schweiz-Osterzgebirge hatte eingeladen. Es war die Jahresauftaktveranstaltung der Schiedsrichtergruppe des KVFSOE.

Siebert ist Referent, schreibt fleißig Autogramme, lässt sich fotografieren – und beantwortet Fragen der zahlreichen Gäste. Oberbürgermeister Uwe Rumberg, der leider wegen einer Erkrankung nicht vor Ort sein konnte, ist Schirmherr der Veranstaltung.

Siebert kennt die Region besser als man denken könnte. Bei der SG Dynamo Dresden musste 38-Jährige aus Berlin häufig ran. Oder besser: durfte. „Ich mag Dresden, die Stadt, die Restaurants, das Stadion. Nirgendwo war ich öfter im Einsatz“, sagt er dem staunenden Publikum, dem das verlorene Relegationsspiel 2021/22 gegen Kaiserslautern samt Abstieg der Sachsen in die Dritte Liga noch vor Augen war.

Dynamos langjähriger Schiedsrichterbetreuer, Jürg Ehrt aus Dippoldiswalde, ist mit Siebert befreundet. Er stellt der Kontakt her. Der selbst als Linienrichter aktive Ehrt ist Vereinsmitglied beim Hartmannsdorfer SV „Empor“ 1922 und für den KVFSOE tätig. Er hat voriges Jahr die Treffen mit etablierten und teils weltbekannten Schiedsrichtern, die es schon vor zwei Jahrzehnten gab, wieder aufleben lassen. Siebert folgte nun erneut der Einladung des KVFSOE und des Schiedsrichterausschuss-Vorsitzenden Philipp Jacob.

Ehe der Stargast aus Berlin auf der Bühne zu Wort kam, ehrten Jacob und Joachim Legler noch zwei verdiente Schiedsrichter des Verbandes: Thomas Haufe erhielt die Ehrennadel des Sächsischen Fußball-Verbandes in Silber anlässlich seines 50. Geburtstages. Zudem würdigte der KVFSOE das langjährige Engagement von Frank Reichelt vom Pretzschendorfer SV. Beide Geehrten verfolgten dann den Auftritt von Siebert wie die meisten Besucher mit regem Interesse.  

Daniel Siebert ist bei vielen Schiedsrichtern ein Star. Sie schauen zu ihm auf, folgen fasziniert seinen Ausführungen. Bundesliga, Champions League, EM und dann auch noch die WM: Der Vater einer Tochter, der in Kürze zum zweiten Mal Vater wird, ist seinen Weg gegangen und hat sich seinen Traum erfüllt.

Der 38-Jährige erzählt in Freital aus seinem Leben und über sein zeitintensives Hobby, das er neben seiner Teilzeittätigkeit als Lehrer an einem Berliner Sportgymnasium äußerst erfolgreich betreibt. In Deutschland gibt es keine Profi-Schiedsrichter. Doch natürlich wird ein Referee, der im Auftrag von DFB, UEFA oder FIFA-Spiele leitet, für sein Engagement nicht schlecht entlohnt.

Doch die Anforderungen sind enorm. Vergleichbar mit denen an Profifußballer. Der Referee ist gläsern. Jeder Schritt wird analysiert, jeder Pfiff im Nachgang ausgewertet. Auch die Physis steht dauerhaft auf dem Prüfstand. Muskelbewegungen, Blut, sogar Urin: Das alles wird untersucht. Sind die Werte nicht so wie sie sein sollten, wird das Training individuell angepasst. Fit wie ein Turnschuh muss der Elite-Schiedsrichter sein. Fast nichts wird dem Zufall überlassen.

Ein Elite-Schiedsrichter muss sich für diese Ehre qualifizieren, muss sich halten, steht unter Beobachtung. Läuft er öfter nicht schneller als 25 Kilometer oder zu wenige Kilometer pro Spiel, muss er daran arbeiten. Würde er zu oft Fehler machen – und Fehler gehören auch dazu – dann steigt man ab und muss sich neu beweisen. Es zählt auch hier das Leitungsprinzip.

„Natürlich macht man auch Fehler, auch meine Schiedsrichterkarriere verlief nicht lineaer, da gab es immer auch Auf und Abs“, erinnert sich Siebert. "Man muss aber Niederlagen als Chance begreifen, um es dann beim nächsten Mal besser zu machen."

Als Jugendlicher aus Marzahn im Osten der Hauptstadt spielte er selbst Fußball, beim Nachwuchs vom 1. FC Union Berlin. Schon mit 14 Jahren begann Siebert – zum frühestmöglichen Zeitpunkt damals – die Ausbildung zum Schiedsrichter. Lange war er in der Verbandsliga Spieler und Schiedsrichter.

Die Erfahrungen, die aus beiden Perspektiven erwuchsen, möchte er nicht missen. „Ich kann das wirklich nur empfehlen, so lange wie möglich als Schiedsrichter auch selbst zu spielen“, so Siebert. Das sei enorm hilfreich bei der Einschätzung von Spielsituationen. Man sollte die jungen Schiedsrichter auch nicht zwingen, sich zu entscheiden, also ob sie weiter kicken oder pfeifen. So empfiehlt er es. Beides sei möglich.

Irgendwann verletzte sich Siebert, fokussierte nach dem Kreuzbandriss die Tätigkeit als Unparteiischer. Sein Weg führte ihn 2012 in die Bundesliga. Da pfiff Siebert sein ersten Erstliga-Spiel, Schalke gegen Augsburg (3:1). Bald wird er sein 150. Bundesligaspiel leiten. 
2021 ging für ihn ein weiterer Traum in Erfüllung: Siebert durfte zur Fußball-EM, zur „Euro 2020“, die in mehreren europäischen Stadien stattfand.

Eigentlich hatte er schon abgesagt, viele Tränen flossen. Denn Siebert wollte unbedingt bei der Geburt seines ersten Kindes dabei sein, das in der Zeit des Turniers zur Welt kommen sollte. Das hatte er sich geschworen. „Doch mein Chef hatte Verständnis“, sagt er und lächelt. 
Seibert durfte pfeifen bei der EM und sofort zu seiner Frau, wenn die Geburt bevorstehen sollte. So war die Absprache, für die er noch immer sehr dankbar ist. Nach zwei EM-Partien (Schottland gegen Tschechien, 0:2, sowie Schweden gegen Slowakei, 1:0) war es schließlich soweit. Er flog heim und erreichte 55 Minuten vor der Geburt das Krankenhaus. Buchstäblich eine Punktlandung.

Außerdem: Siebert hinterließ bei seinen EM-Einsätzen einen guten Eindruck. Denn er wurde – nach der Geburt – erneut berufen, in Amsterdam das Achtelfinal-Duell Wales gegen Dänemark (0:4) zu leiten. Es folgten viele weitere internationale Einsätze. Der Weg führte ihn schließlich zur WM 2022.

Und in Katar kam es dann zu jener kniffligen Situation ohne Elfmeterpfiff für Uruguay samt der kritischen Reaktionen, die ihn wohl um einen weiteren WM-Einsatz brachten.

Doch auch hier wäre ein Perspektivwechsel für manch Kritiker nicht schlecht gewesen. Fast alle Zeitlupen im TV lassen ein mögliches Foulspiel des Gegners aus Westafrika erahnen. Doch diese eine Kameraeinstellung, die eben nicht gezeigt wurde, nun aber die Leinwand im Stadtkulturhaus füllt, verdeutlicht: Siebert lag nicht falsch!

Denn Cavani fädelt sich geschickt und vor allem im richtigen Moment ein wird dann vom Gegner touchiert und fällt. „Für mich ist das kein Elfmeter“, betont Siebert und zieht einen Vergleich mit einem Verkehrsunfall. „Wenn ein Autofahrer im Verkehr plötzlich seine Spur wechselt, ohne vorher zu blinken, und ihm dann jemand davon überrascht in sein Auto fährt, muss sich der Fahrer eigentlich nicht darüber wundern.“ Wieder Nicken. Wieder viel Zuspruch aus dem Publikum.

Nach diesem erkenntnisreichen wie interessanten Abend, vielen Autogrammen und zahlreichen erfüllten Fotowünschen mit Fans verabschiedete sich Daniel Siebert und ließ den Abend mit Vertretern des Kreisfußballverbands bei einem gemeinsamen Abendessen ausklingen.

Eine Wiederholung ist nicht ausgeschlossen.


(Fotos: skl)

 

 

 

 

 

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